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Laktat-Purismus, Watt-Wahn und »größer ist besser«

Es hat sich mal wieder gelohnt, die ganze Schinderei vor, während und nach der Messe, auch wenn die Eurobike für uns irgendwie zu mächtig scheint.

Für die trenddynamisch wachsende Fahrradbranche leistet die Eurobike dennoch Einmaliges: Sie ist eine spannende, gnadenlos überfüllte Plattform, und sie bildet die weltweite Szene ziemlich umfassend ab.

Wir spinnen, wir Fahrradleute

Obwohl dies inzwischen unsere elfte (oder zwölfte…) Eurobike ist, die tollen Tage von Friedrichshafen fordern und überraschen uns immer wieder aufs Neue. Zugegeben, beim Streifzug durch die Hallen ertappt man sich selbst als Eurobike-Veteran dabei, wie der Zeigefinger in Richtung Stirn wandert. Das liegt in diesem Fall weniger an einer gewissen menschlichen Engstirnigkeit, nein – manche Innovation und mancher Trend sprengen selbst die weiten Grenzen unserer kunterbunten und hoch innovativen Branche.

Der Begriff Fahrrad beschreibt inzwischen völlig unzulänglich das, was der Weltmarkt in den Hallen am Bodensee zur Show stellt. Den Versuch oder gar – völlig vermessen – den Anspruch alles verstehen oder erfassen zu wollen, lässt man spätestens nach der zweiten Halle sausen. Innerlich zurück lehnen, lächeln und genießen lautet die erfolgreichere Devise, denn die Eurobike spiegelt schließlich unsere immer vielschichtigere Gesellschaft wider. Die giert in großen Teilen nach Produkten, die ihrem momentanen Lifestyle entspricht. Befriedigungshilfe leistet dabei die scheinbar niederschwellige Fahrradtechnik –, was aber wiederum ganz gerne die Finger-an-Stirn-Aktion auslösen kann ;-)

Aus der Perspektive eines kleinen Ausstellers – einer von dreizehnhundert – betrachtet man das Spektakel nochmals anders. Mal abgesehen davon, dass so eine Messe ein extrem teures Vergnügen ist, stellt man sich jedes Jahr die bange Frage, wie man auf diesem gigantischen Jahrmarkt der Eitelkeiten bestehen oder überhaupt Aufmerksamkeit auf sich lenken kann. Heuer hat es wieder mal funktioniert. Wahrscheinlich zahlen sich unsere vielen Jahre Marken- und Messe-Kontinuität aus, denn wenn’s unübersichtlich wird, suchen die meisten Menschen Orientierung an bekannten Orten und bei beständigen Marken ;-)

Obwohl unsere Messezeit fast völlig von Terminen verplant war – übrigens: großes Lob, fast alle unsere Händler-Partner waren da – nutzten wir jede Möglichkeit durch die Hallen zu streifen und haben dem Messegeschehen einige durchaus kritisch-ironische Eindrücke abgewonnen.

Der Megatrend E-Antrieb

zieht sich inzwischen wie ein roter Faden durch alle Fahrradgattungen. Kein Wunder, denn das E-Fahrrad ist unbestritten eine segensreiche Erfindung mit vielen positiven Aspekten für Mensch und Gesellschaft. Ob aber nun alles was ein, zwei oder drei Räder hat motorisiert sein muss, noch dazu mit 60 bis 80 Nm Drehmoment, bleibt fraglich. Um noch einen Rest von Fahrrad-Correktness aufrecht zu erhalten, werden für die flächendeckende Motorisierung von reinen Sport-Fahrrädern abenteuerliche und vermeintlich rationale Argumente aufgefahren. Manche fabulieren gar von der »Demokratisierung der Trails«. – Warum gibt’s eigentlich noch keine Lauf- und Bergschuhe mit E-Antrieb… Geschenkt, der E-Geist ist aus der Flasche und mit der Bewertung ist das so eine Sache. Hoffen wir auf den früher oder später einsetzenden gesunden Menschenverstand und den langfristig unwiderstehlichen Charme von Laktat-Endorphin-basierter Mobilität ;-)

Unsere differenzierte Bejahung des E-Bikes werden wir sicher weiter entwickeln und mit dem Neodrive haben wir ein ausbaufähiges Antriebssystem. Parallel werden wir weiter nach smarten Unterstützungen suchen. Zum Beispiel konnten wir ein Rad mit dem Tretlagermotor Pendix auf der Messe zur Probe fahren.

Urban – sprich öhrben – und Retro

ist ein weiterer und inzwischen schon inflationär strapazierter Trend für auf Lifestyle getrimmte Stadträder. Wobei Style und Schick eindeutig im Vordergrund stehen. Funktionalität ist irgendwie out oder wird bewusst negiert, in dem man Fahrradsteinzeit-Technik aus den 80zigern kultiviert. Da ist die Design-Studie vom Versender Canyon wirklich ein Lichtblick, denn immerhin wird hier eine schnittige Form mit einem hohen Maß an Funktionalität geboten, wie z.B. so banale Dinge wie ein funktionierendes Schutzblech und Diebstahlschutz. Es ist ja überhaupt nichts dagegen einzuwenden, dass Gebrauchsräder schicker und hübscher werden – ganz im Gegenteil. Aber eine genussvolle und ernsthafte Fahrradnutzung, die nicht von einer nassen Straße ausgehebelt wird, brauchte in jedem Fall mehr als modisches und kurzlebiges Chichi.

Überwiegend am Style und Trend ausgerichtete Fahrräder, die dann zum Beispiel nur in zwei Rahmengrößen angeboten werden, sehen wir auch weiterhin nicht bei Velotraum, das können andere »besser«. Allerdings sehen wir noch Spielraum, unsere Räder auf Wunsch stylischer zu machen, ohne dass die Funktionalität zu sehr leidet.

Wieso einfach, wenn’s auch kompliziert

geht – oder der Aufwand wird zum Selbstzweck. Während die einen bewusst auf so segensreiche Erfindungen wie Schaltung, Bremsen, Schutzbleche, Lichtanlage usw. verzichten, kann es für andere Hersteller/Kunden nicht aufwändig und kompliziert genug sein. Ein schönes Beispiel sind die zum Teil unglaublich tollen, aber aufwändigen und von Spezialteilen strotzenden Lösungen zum Spannen der Kette oder des Carbon-Riemens. Die Zeiten, in denen man beim Fahrrad nach smarten Lösungen suchte oder auch mal einen (vermeintlichen) Kompromiss akzeptierte, scheinen vorbei zu sein. Wie in der Automobilindustrie wird die Technik und das Machbare mehr und mehr zum Selbstzweck, ein bierernster Wettlauf um die aufwändigsten Details ist ausgebrochen, bar des Spielerischen oder gar Selbstironischen.

So auch beim Fatbike. Wie nicht anders zu erwarten war hatte fast jeder MTB-Hersteller jetzt so ein Ding auf dem Stand stehen. Bevor nun überhaupt eine relevante Rückmeldung aus dem europäischen Markt da ist (Satz vom Nullprodukt) versucht man sich mit fragwürdigen, technischen Superlativen zu übertrumpfen, wie z.B. Vollfederung, E-Antrieb, Tretlagerbreite 130 mm, Hinterbauten 210 mm… Als ob davon der Spaß und die Erlebnisfähigkeit abhängen; aber halt, stopp – jedem Tierchen sein Pläsierchen. Apropos – ausgereifte Fat-Tourenbikes à la Pilger gab es wenige.

Fragwürdig empfinden wir auch manche Ansätze von Systemintegration für Fahrräder von der Stange. Dieses Thema wird regelmäßig wiederbelebt, kommt aber aus unserer Sicht nicht so richtig vom Fleck. Vielleicht liegt es daran, dass die Nachteile die Vorteile überwiegen, wie zum Beispiel, wenn der Scheinwerfer ins vordere Schutzblechs integriert wird und so verstärkt Schmutz und Spritzwasser ausgesetzt ist. – Miesmacher und Spielverderber, denn wer fährt schon bei Regen? – Richtig, wenige Branchenmenschen zumindest, wie an den eher regnerisch-kühlen Eurobike-Tagen wieder zu sehen bzw. an den lange Schlangen stehenden Blechs abzulesen war :-)

Während die Systemintegration in einem natürlichen Widerspruch zu unserer Variantenviefalt steht, hat uns die Messe inspiriert und motiviert, bei den Detaillösungen Funktion und Wirksamkeit, Premiumanspruch, Design und Einfachheit noch besser unter einen Hut zu bekommen, auch wenn’s mal etwas länger dauert.

Eine weitere Analogie

zur Automobilindustrie – je größer, desto besser – lässt sich bei den Laufrad- und Reifengrößen feststellen. Die großen Laufräder sind in, egal für welche Körpergröße oder für welchen Einsatzbereich. Was im Moutainbike-Bereich eine gewisse Sinnhaftigkeit hat (für Fahrer über 1,80), wird völlig unreflektiert auf immer mehr Fahrradgattungen übertragen, vielleicht demnächst ja auch aufs Faltrad. In diesem Punkt war die Branche schon mal deutlich weiter und differenzierter. Dieser Rückschritt in eine Art Laufrad-Monokultur (angesichts einer überbordenden Vielfalt) könnte unter Umständen dem gesellschaftlichen Erfolg des Fahrrads geschuldet sein, das immer mehr im Fokus der breiten (Medien)Öffentlichkeit steht. Und da braucht es halt permanent einfach zu kommunizierende und massenkompatible »Trends«. Out und in oder besonders klein und groß geht immer. Apropos groß und fett, von dieser medialen Gesetzmäßigkeit hatten wir letztes Jahr bei der Präsentation des Pilgers stark profitiert :-)

Vielleicht noch ein paar Zahlen und Fakten zum Thema Reifengröße am Beispiel des Marktführers Schwalbe:

  • Anzahl der 26-Zoll-Reifen im Schwalbe-Katalog 2015: 91*
  • Anzahl der 650B-Reifen im Schwalbe-Katalog 2015: 32*
  • Anzahl der 28-Zoll-Reifen im Schwalbe-Katalog 2015: 150*
  • Anteil der 26-Zoll-Reifen im Aftermarket: 60%
  • (*) die unterschiedlichen Breiten sind bei den angegeben Mengen berücksichtigt

Ach ja, diese einfach zugänglichen Zahlen und Fakten kennt in der Branche (Hersteller, Händler, Fachpresse) so gut wie keiner, es ist ja viel einfacher, dass zu machen, was alle machen ;-)

Totgeglaubte leben länger. – Der immer wieder kolportierte Spruch – »26-Zoll ist tot« – mag fürs Rennrad und nun auch auf (neue) MTBs zutreffen, aber diese Fahrradgattungen haben nur ein paar Prozent Marktanteil. Weiterhin sehen wir die 26-Zoll Laufradgröße als ideale Basis für die vielseitige Nutzbarkeit unserer Fahrräder und die überragenden Anpassungs-möglichkeiten an die unterschiedlichen Staturen und Einsatzbereiche unserer Kunden. Allerdings werden wir die Laufradgrößen-Entwicklung sehr aufmerksam beobachten und eine Erweiterung und Spezialität à la Pilger kann sicher auch mal auf XY-Laufradgröße rollen.

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