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Wir »Fahrradleute« – ein Auslaufmodell?

Was unterscheidet die in der Wolle gefärbten Fahrradleute von den mehr und mehr automotiv geprägten E-Bike-Leuten? Und was verbindet sie?

Auf dem Branchenkongress Vivavelo vor ein paar Wochen in Berlin, unternahm Dietmar Hertel den interessanten Versuch, die Unterschiede in der »Denke« anschaulich herauszuarbeiten.

Branchenkongress Vivavelo

Vor vier Jahren war der Chronist das erste Mal auf diesem begrüßenswerten Branchenkongress und ist damals mit einem ganzen Rucksack voller Ideen und Inspirationen zurück gekommen.

Dieses Mal war die »Ausbeute« nicht so üppig, zumindest unter fahrradtechnischen Gesichtspunkten, denn die Mehrzahl der technischen Vorträge beschäftigte sich oder huldigte ausschließlich dem E-Bike. Wirklich elektrisierend waren aus der Chronistensicht einmal mehr die Vorträge aus dem Bereich der Verkehrs- und Stadtplanung. Seien es umgesetzte Projekte oder auch Zukunftsvisionen. Wenn zum Beispiel der Urbanisierungstrend so weiter geht, werden zur Mitte dieses Jahrhunderts 75 Prozent der Menschen in Metropolen leben. Dass Autos, die schon heute mehr Stehzeuge denn Fahrzeuge sind, in diesen Megacitys keinen Platz mehr haben, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Dabei wird es völlig egal sein, ob sie fossil oder elektrisch angetrieben werden. Überraschend und ernüchternd, ambitionierte Fahrrad-Visionen findet man eher im Ausland. Damit ist nicht nur das unvermeidliche Vorbild Kopenhagen gemeint, sondern auch Städte wie Paris, Chicago, New Mexico, Detroit (!). – Dazu der Bürgermeisters aus Chicago: »You cannot be for a startup, hightech economy and not be probike«.

Okay, solche Kongresse sind natürlich auch politische Werbeveranstaltungen um Macht und Einfluss und da muss man sich im allerbesten Licht darstellen (es gibt zwar Menschen, die das auch von Velotraum sagen, aber die waren noch nie auf einem Branchenkongress…). Nun ist der Chronist kein routinierter Besucher derartiger Veranstaltungen und als Kontrastprogramm zu der schönen und verheißungsvollen Kongresswelt residierte ich 20 Kilometer außerhalb von Berlin mitten auf einem Campingplatz. In den drei Tagen sammelte ich so 150 Kilometer Berliner Radwege-Realität, da ist man dann wieder im Hier und Jetzt ;-)

Wir Fahrradleute i.S.v. Kurbelradler – Auslaufmodell oder Impulsgeber für smartere E-Bikes?

Auch auf der Vivavelo dominierte einmal mehr das E-Bike den Branchenauftrittt. Eine interessante Ausnahme machte der Vortrag des Rahmenbauers Dietmar Hertel. Getreu dem Motto, »erkenne dich selbst«, verdeutlichte er anhand einiger Beispiele, wie eingefleischte Fahrradleute im Vergleich zu den Fahrzeugleuten (E-Bike, Automotive) gestrickt sind.

  • Das rein mit Muskelkraft betriebene Fahrrad ist durch und durch von einem Mangel an Antriebsleistung gekennzeichnet, ganz grob so 100 bis 200 Watt Dauerleistung. Die Antwort auf diese evolutionären Randbedingungen ist Sparsamkeit, Leichtbau und höchste Energie-Effizienz in allen Bauteilen. Alle Entwicklungen am Fahrrad wurden früher oder später diesem Effizienzgedanken angepasst oder sind wieder verschwunden. Nicht so beim Auto. Während ein VW Golf II vor 30 Jahren um 850 Kilogramm wog, 470 Kilogramm Zuladung erlaubte und zirka sechs Liter Treibstoff konsumierte, wiegt ein aktueller Golf knapp 1.300 Kilogramm, bei unveränderter Zuladung und Verbrauch. Allein der Komfort und die Sicherheit haben zugenommen und die Motorleistung von 40 auf 60 kW. Ganz anders die Entwicklung beim Rennrad. Statt 11,0 Kilogramm wiegt ein modernes Rennrad nur noch 8,0 Kilogramm, hat aber dennoch einen wesentlich steiferen Rahmen und bessere Bremsen (Sicherheit) sowie eine erheblich verbesserte Schaltung (Komfort).
  • Auch an der Entwicklung der Beleuchtung lässt sich die Fahrrad-Denke schön illustrieren. Dank hocheffizienter LED-Leuchtmittel und Nabendynamos können mit 3 Watt Dynamoleistung inzwischen 300 lm Lichtstrom erzeugt werden. Da 150 lm eventuell auch ausreichend sind, sind nun kleinere und leichtere Nabendynamos mit 1,5 Watt Leistung im Gespräch.
  • Völlig anders die Vorzeichen und Schwerpunkte beim E-Bike. Hier ist quasi Leistung im Überfluss vorhanden (500 Watt), also ein Vielfaches dessen, was der durchschnittliche Radfahrer beisteuert. Dieses Dogma der hohen Leistungsreserven – analog zum Auto – führt dazu, dass die Räder besonders stabil und schwer konstruiert werden müssen, vom Motor- und Akkugewicht ganz zu schweigen. Dass sich das E-Bike so mehr und mehr vom Fahrrad entfernt, lässt sich von jedermann leicht überprüfen. Fahren sie einfach mal ein Pedelec ohne Motorunterstützung – Spaß ist was anderes…
  • Dabei könnte man sich durchaus eine Symbiose vorstellen, so Hertel. Der Mehrzahl der Fahrradleute täte es gut, sich in Sachen Qualitätsmanagement, Sicherheit und Zuverlässigkeit eine dicke Scheibe von der Fahrzeugtechnik abzuschneiden. Andererseits ist der alles prägende Sparsamkeits- und Effizienz-Gedanke der Fahrradleute die Voraussetzung für deutlich kleinere und leichtere E-Bike-Systeme mit nur 100 bis 200 Watt Leistung und einem Zusatzgewicht von drei bis vier Kilogramm. Solche Räder würden auch ohne Motorunterstützung funktionieren und vereinen die Vorzüge und Qualitäten beider Welten. Mit dem Gruber-/Vivax-Antrieb gibt es dafür auch schon ein prinzipielles Vorbild (allerdings mit Detailschwächen, wie wir aus eigener Erfahrung wissen).

Das Fahrrad im E-Bike-Schatten?

Auf der Vivavelo waren solche Überlegungen jedoch nur eine Randnotiz (aber immerhin). In den technischen Vorträgen kam das normale Fahrrad so gut wie nicht mehr vor, oder die Vorträge fanden vor leeren Rängen statt, wie ein ziemlich frustrierter Jo Klieber erleben musste. Auch die Politik und die Verwaltungen verbinden mit Fahrrad mehr und mehr ausschließlich das E-Bike, als wenn der Elektromotor die fehlende Infrastruktur ersetzen könnte (während meiner drei Tage in Berlin habe ich weniger E-Bikes gesehen, als in einer Viertelstunde auf einem touristischen Flusswander-Radweg).

Dass mit dem E-Bike eine tolle Ergänzung und Erweiterung zum Fahrrad zur Verfügung steht, ist uneingeschränkt zu begrüßen. Theoretisch könnten laut agfs 15 Millionen Pendler aufs E-Bike und Fahrrad umsteigen, wenn man die durchschnittlichen Pendlerdistanzen zu Grund legt!

Leider war auf der Vivavelo von dem »und« relativ wenig zu spüren. So stand für die völlig flache und kurze Stadtrundfahrt per Fahrrad ein E-Bike-Parkur zur Verfügung – völlig unverhältnismäßig… Die Tendenz, dass die geniale Maschine Fahrrad von großen Teilen der Branche und der Medien inzwischen aufs Abstell-, Sport- oder Liebhabergleis gestellt wird, fand auch in Berlin seine Fortsetzung. Lange, lange bevor nur ansatzweise das Potenzial des Effizienz-Wunders ausgeschöpft ist. Schlechte und in vieler Hinsicht unpassende Fahrräder (oft von den gleichen Herstellern, die jetzt die »Bosch-Räder« herstellen…) haben bei vielen Menschen das normale Fahrrad zu etwas Mühsamem und Beschwerlichem werden lassen, selbst auf ebenen und kurzen Strecken! Diese negativen Vorzeichen umzukehren, ist mit einem 500 Watt-Booster unter dem Hintern natürlich einfacher, als mit einem noch so passenden und effizienten Fahrrad, von der angeborenen Bequemlichkeit des Menschen ganz zu schweigen ;-)

Eine abschließende Antwort auf die Eingangsfrage zu geben, fällt mir daher schwer, nicht zuletzt wegen der eigenen Betriebs- und Branchenblindheit. Aber das Resümee des Hertel-Vortrags ist eine ganz schöne Vision, der wir uns voll und ganz anschließen wollen:

»In unserer Branche gibt es kurze Wege zwischen Einzelhändlern, Großhändlern, Herstellern und Zulieferern. Wir Fahrradleute haben die Chance, das Elektrofahrrad im Spannungsfeld zwischen Fahrrad und Kraftfahrzeug nach unseren Maßstäben und Kompetenzen zu gestalten.« [Dietmar Hertel 2014]

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