Unlängst hatten wir hier ein Beratungsgespräch, das uns eindrücklich vor Augen führte, wie stark persönliche Entscheidungen vom Umfeld beeinflusst werden.
Insbesondere im Jugendalter gilt die Peergroup als einflussreich, doch auch ein hohes Alter »schützt« nicht unbedingt vor dem ambivalenten Einfluss der »Gleichgestellten«.
Eine sehr geschätzte Stammkundin aus einer süddeutschen Universitätsstadt hatte sich zur Beratung für ein Pedelec angemeldet. Sie fährt seit knapp 30 Jahren Velotraum-Fahrräder und schätzt unsere Produkt in hohem Maße. Bei zwei Telefonaten im Vorfeld hatten wir die Anforderungen schon mal grob sondiert, und die Kundin hatte sich nach eigenen Angaben kundig gemacht.
Als die Dame vor dem Beratungstermin schon mal durch die Ausstellung schweifte, war die Enttäuschung allerdings groß. Sie konnte kein »E-Bike« mit richtig tiefem Einstieg entdecken, nur unser TD-Modell. Auch wir waren etwas vor den Kopf gestoßen, denn davon war im Vorfeld nicht die Rede. Offensichtlich war der Wunschgedanke der Kundin stärker, als die Fakten unserer Homepage bzw. unserer Druckunterlagen. Nachdem sich die Kundin etwas von ihrer Enttäuschung erholt hatte, konnten wir die Hintergründe ausloten, warum sich die Kundin so auf einen Tiefeinsteiger versteift hatte. Neben dem Alter (über 70 Jahre) war eine besonders hohe Sicherheit beim Fahren und Anhalten bzw. Anfahren ihr Wunsch, und den sollte und konnte offensichtlich nur der Tiefeinsteiger für sie gewährleisten.
Alles gute und nachvollziehbare Gründe, und es spricht nur wenig gegen ein Pedelec mit sehr tiefem Einstieg. Die gibt es schließlich wie Sand am Meer – freilich selten wirklich gut gemachte, im Sinne von besonders fahraktiv und fahrradspezifisch. Daher wird ein eingefleischter Velotraum-Fahrer mit dem Gros dieser Räder nicht immer glücklich werden.
Zurück zu unserer Stammkundin – Mit unseren Argumenten, dass für die gewünschten Eigenschaften vor allem das Fahrradgewicht, die Fahreigenschaften und die Schrittfreiheit (Überstandshöhe) von Bedeutung sind, konnten wir nicht so richtig zu ihr durchdringen. Ein kleiner und sehr wichtiger Test, wie gut der Kundin der Ein- und Ausstieg in ein FD2E mit TD-Rahmen gelingt, zeigte, dass die Dame gelenkiger war als die meisten halb so alten Männer … Mit viel Seelenmassage konnten wir die Dame schließlich dazu bewegen wenigstens eine Probefahrt zu machen. Wie zu erwarten kam eine völlig begeisterte Kundin von der Probefahrt zurück.
Allerdings reichte die Begeisterung nicht aus, um sich vom Einfluss der Peergroup zu lösen – Zitat: »Mit so einem Rad kann ich unmöglich in unserer Fahrradgruppe auftauchen«.
Als guter Berater weis man, wenn man auf verlorenem Posten steht und so blieb nur, der Kundin viel Erfolg bei der weiteren – Peergroup-gerechten – Pedelec-Suche zu wünschen ;-)
Kommentare
Na ja, das Thema Meinungsbildung in der “peergroup” betrifft auch gerne Männer in der “midlife crisis” :-) Da werden schnittige Gravelbikes geordert mit super sportlicher Sitzposition … nur hält eben die muskuläre Disposition des Rückens nicht ganz mit … und dann klagt man über Schmerzen in den Händen oder über andere Wehwehchen. Mein Rat an einen Kollegen in dieser Situation lautete, ein paar Spacer einzubauen, was er aber wegen der daraus folgenden angeblich unschönen / unsportlichen Optik verweigerte. Das Rad steht derweil nun ungenutzt in der Ecke ….
Manchmal ist es besser auf ein Geschäft zu verzichten, gerade in der aktuellen Versorgungslage fällt das doch leicht.
Das geschilderte Klientel beobachte ich in meinem Umfeld auch, nicht nur bei Frauen sondern überwiegend auch bei Männern.
Schwer angesagt sind diese Rahmen mit tiefem Durchstieg, hohe Lenker für eine angeblich entspannte und aufrechte Sitzposition und ein viel zu tief eingestellter Sattel, damit beide Füße beim Anhalten flach auf dem Boden stehen können. Man möchte ja nicht umfallen.
Wenn man eine Weile drauf sitzt, rollt sich auch automatisch der Rücken ein. Weil man so nicht lange beschwerdefrei fahren kann, werden verstellbare Vorbauten, ergonomisch Griffe, weiche breite Sättel und gefederte Sattelstützen nachgerüstet.
Damit die abgewinkelten Knie nicht so schmerzen, fährt man überwiegend mit höchster Unterstützungsstufe.
Ein Rücksiegel wird auch gerne montiert, um das Umdrehen auf dem instabilem Gefährt zu vermeiden.
So ein Fahrrad würde ungenutzt im Keller verstauben. Als Pedelec motiviert es aber, mit seinesgleichen durch die Gegend zu gondeln. Das liegt voll im Trend.
Gruß Ingo
@ Guido: Die Spezies »midlife crisis« haben die Produktbilder auf der VT-Seite – Schutzbleche, Lichtanlage, Lenker auf oder über Sattelhöhe – wohl nachhaltig in die Flucht geschlagen, die tauchen hier nicht auf ;-)
@ Ingo: Da decken sich wohl unsere Beobachtungen ;-) Nur in einem Punkt muss ich Dir widersprechen: Gerade in der aktuellen Lage ist für uns jeder Auftrag wichtig!
Das hätte ich so nicht erwartet, so kann man sich täuschen.
Vielleicht solltet Ihr Euch so ein Radl mit tiefem Durchstieg zum Vergleich der Fahreigenschaften für Probefahrten zulegen?
Hoffnungsvoller Weise überzeugt das die Kundin, oder sie möchte genau dieses haben.
@Guido: Spacer kann man nicht einfach so ergänzen. Der von außen auf dem Gabelschaft geklemmte Vorbau hinge dann in der Luft. Man könnte allerdings ggf. einen kürzeren bzw. steileren Vorbau oder einen stärker nach oben gebogenen Lenker verbauen. Beim Pedelec jedoch auch nur soweit, wie es die Züge bzw. Leitungen hergeben.
Hi Matthias,
danke für den Hinweis :-)
Im konkreten Fall hätte man die über dem Vorbau montierten Spacer unter dem Vorbau montieren können, das hätte ein wenig gebracht. Aber klar, sonst helfen nur ein längerer Gabelschaft oder die von dir genannten anderen Teile …
Da fällt mir der “Halbrenner” der 70er-Jahre ein: Rennlenker um 180° rotiert (ohne Ausbau, Bremszugverlauf …. naja) und fertig war das “Urbanbike” jener Tage. Bequemlichkeit und Bremsfunktion waren nicht so das Thema, dafür die Griffhöhe auf einen Sitz um 30 cm erhöht. Die zugehörige Peergroup habe ich noch vor Augen :-)
An anderer Stelle entwickeln sich ja die Gravelbike-Lenker munter in Richtung “Moustache” – auch schon mal da gewesen und Wenden (mit Ausbau) wäre kein Thema. Optisch vielleicht die Mutation, die der ganz zu Beginn genannten “tiefer Durchstiegs”-Gruppe entgegen käme.