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Roaming Pedals | №09 – Einmal Erleuchtung, bitte!

Reisen ist für uns Menschen in der »Ersten Welt« zu einem sehr hohen Gut und Statussymbol geworden.

Während der ehemals profane Urlaub der Erholung und Entspannung dient, hat der Zeitgeist das Reisen zur Selbstverwirklichung, Sinnsuche und einem gepflegten Eskapismus erhoben.

Dagegen ist im Großen und Ganzen überhaupt nichts einzuwenden, denn Reisen – noch dazu mit dem Fahrrad – ist eine wunderschöne Sache. Freilich ist der Übergang von einer gepflegten Passion zu einem Heil- und Glücksversprechen inzwischen fließend, und speziell in den sozialen Medien treibt der Hype ums Reisen inzwischen bizarre Blüten.

Und damit wären wir bei einer weiteren Frage, die wir Tanja und Johanna gestellt haben:

  • »Wie seht Ihr das, kann sich die eigene Persönlichkeit durch eine längere Reise wirklich ändern, oder nimmt man sich überall hin mit?«

Dass die hochreflektierte Antwort mehr Fragen als Antworten liefert, liegt wohl in der Natur der Sache. Unbedingt erwähnt werden muss auch noch, dass wir unsere Bewunderung für diese Art von Artikeln schon gar nicht mehr in Worte fassen können. Während dem Chronisten beim Erstellen von Artikeln diverse Gerätschaften und Arbeitsplätze helfen, erledigen Tanja und Johanna das an jedwedem Ort auf einem Smartphone – Chapeau!

№09 – Einmal Erleuchtung, bitte!

Von Tanja Willers und Johanna Hochedlinger

Manchmal beschleicht einen das Gefühl, reisen gilt nur, wenn man sich dabei alle zwei Wochen selbst findet. Was aber, wenn man gar nicht primär nach sich selber sucht? Was, wenn die Funde einer Reise ganz anderer Natur sind?

»Sche pomali«, immer mit der Ruhe, denn wir sind ja nicht auf der Flucht. Vielleicht fangen wir besser von vorne an, als gleich nach dem erleuchteten und tiefengereinigten Wesen am Ende dieser inflationär beworbenen Reise zu sich selbst zu suchen.

Warum reisen wir eigentlich? – Natürlich reisen wir um zu lernen, aus purer und unstillbarer Neugier auf alles, was die Welt so zu bieten hat, nicht wahr? Oder sind wir eventuell doch auf der Flucht? Verkleiden wir unseren höchstpersönlichen Protest, unseren Ausstieg aus dem System, die absolute Verweigerung als Reise? Ist die wiederholte Grenzüberschreitung ein probates Mittel der Ablenkung? Oder genießen wir einfach die Anonymität, den Neustart, den jeder Ortswechsel mit sich bringt? Ist unsere Reise vielleicht ein Projekt – ein wohltätiges gar? Brauchen wir die tägliche Herausforderung jenseits unserer Komfortzonen? Wollen wir uns etwa einfach nur spüren, sind wir nichts anderes als Extremsportler, Sensation Seeker? Bekämpfen wir unsere innere Abstumpfung, unsere Müdigkeit mit einem Dauerfeuer der Sinneseindrücke? Oder ist es einfach nur der Blick über den Tellerrand, für den wir auf der Nudelsuppe mal hierhin und mal dahin schwimmen?

Gespräche mit einem »Hängengebliebenen« (männlich, 45Jahre, geschieden, Kinder in der Türkei, kein Cent mehr in der Tasche) im billigsten Hostel in Kuala Lumpur lehrten mich auf meiner ersten großen Reise vor 18 Jahren, dass ich nicht jeden cool finde, der schon lange nicht mehr zuhause war. Unauthentische Instagram Profile lassen mich mit meinen 36 Jahren vermuten, dass nicht jeder vorgeschobene Reisegrund auch immer der wahre Antrieb einer Reise ist.

Jeder kennt die Geschichten von der vielbesungenen Selbstfindung auf Reisen. Es kommt wie ganz von selbst zur Reflexion, zu einer vollkommenen Veränderung der eigenen Sichtweisen und einer tiefgreifenden Persönlichkeitsentwicklung. Und wenn es das nicht tut, dann ist vermutlich irgendetwas schiefgegangen. Aber so einfach ist das alles doch nicht …

Wie bei fast allem in Leben hinterlässt ein »erstes Mal« besonders tiefe Eindrücke. So war die besagte erste große Reise, in Verbindung mit einem jugendlichen Abnabelungsprozess und einer massiven Horizonterweiterung nach vielen Jahren Klassenzimmerweisheit – aus all diesen Gründen – zweifellos was richtig geiles. Und dann? Kann man genau diesen Wow-Effekt im Laufe des Lebens nun immer und immer wieder durch reisen reproduzieren? Sollte das überhaupt das Ziel sein?
Reisen kann immer als temporäre Sinnesflutung, als bunter Strudel von Eindrücken funktionieren, es dient hervorragend dazu, mittelfristig auf andere Gedanken zu kommen, sich unabhängig und wild zu fühlen, aber es kann mit etwas eigenem Zutun langfristig noch viel mehr.

Reisen kann zum Beispiel bilden, wenn man das möchte, und das Erkennen von Zusammenhängen kann einen verändern, wenn man es zulässt. Nichts davon wird einem aber wie ein Datensatz bei Matrix ins Gehirn gepflanzt – echte Veränderung und Fortbewegung erfordern immer und überall Energieaufwand. Wir beobachten unglaublich gerne, wir lesen auch viel, recherchieren und fragen nach. Wir fragen das selbe wieder und immer wieder, führen manchmal extrem anstrengende Gespräche ohne ersichtliches Ergebnis, dann wiederum fällt ein einziger beiläufiger Satz, der uns so viel verstehen lässt.

Und wenn das Gehirn zwischen Nachbesprechungen, Planungen und anderen Anstrengungen mal locker lässt, dann gibt es in unserem entschleunigten Reisealltag auch noch ganz viel Raum für Anderes. Meist blubbert dann all das an die Oberfläche, was uns sonst noch ausmacht. Gedanken schweifen zu weit entfernten Themen, zu unseren Freunden und Familien, Träume kreisen um Beziehungen, Auseinandersetzungen, aber auch schöne Erlebnisse der Vergangenheit.

Ja, wir haben uns und einander mit im Gepäck! Es wäre schade, sich auf einem solchen Abenteuer nicht mit dabeizuhaben – immerhin haben wir ein ganzes Leben an der Entwicklung unserer Superkräfte gearbeitet. Wir kennen unsere Stärken, versuchen auch unterwegs unseren Schwächen beizukommen, streiten und amüsieren uns über unsere Macken. Und manchmal ist Reisen aufgrund der Losgelöstheit von Strukturen und Routinen fast ein bisschen wie Alkohol: Es bringt vorhandene Tendenzen und Wesenszüge unangenehm klar zum Vorschein.

Wir glauben also nicht daran, dass Reisen einem dabei Helfen kann oder soll, seine Persönlichkeit abzustreifen wie ein altes Hemd. Vielmehr bietet es mit seiner Fülle an außergewöhnlichen und oft kontextlosen Situationen jeden Tag haufenweise Gelegenheiten, diese Persönlichkeit zu beobachten, sich besser kennenzulernen und eventuell auch ein wenig zu verändern, wenn man bereit ist hinzuschauen, hinzufühlen und nach den Erkenntnissen zu handeln. Wer findet es nicht spannend, ungerechtfertigte Schuldzuweisungen in körperlichen Extremsituationen (z.b. beim hungrig Kochen), oder die immer zwischen 16:15 und 16:43 Uhr auftauchende gute Laune zu erforschen?

Und dann stellt sich plötzlich die Frage aller Fragen: Wie sehr unterscheidet sich Reisen eigentlich von Alltag? Oder: Warum sollten wir auf Reisen nicht immer noch wir selbst sein wollen?

Grenzüberschreitungen sind Grenzüberschreitungen – zuhause wir auch unterwegs – und erfordern Abgrenzung. Wer das zuhause nicht gelernt hat, der lernt es eventuell in der Ausgeliefertheit beim Reisen auf die harte Tour. Es dauert inzwischen nur mehr Augenblicke, bis ich jemanden aus vollem Herzen anschreie, der als Dank für die geschenkte Wassermelone mit einem verstohlenen Blick nach Sex fragt. Dinge, die zuhause nerven, nerven auch hier, und das kann hinterfragt werden. Wer sich zuhause nicht in Frage stellt, der tut es auf Reisen möglicherweise aus Neugier, weil einem die eigene Entscheidung keine Ruhe lässt, oder beim Anblick des enttäuschten Gegenübers. Ist es jetzt wirklich so schlimm, dass ich heute erst eine halbe Stunde später schlafen gehen kann, weil wir dem aufgeregten Hirten zuerst noch freundlich erklären müssen, dass wir ihn heute nicht mehr zu Hause besuchen wollen?

Reisen ist – wie das ganze Leben – eine Kette von Bedürfniskonflikten und daraus folgend eine Gratwanderung zwischen Offenheit und Selbst(be)achtung. Vielleicht sollten wir also statt von der großen Selbstfindung eher von der fortdauernden Selbstverortung sprechen. Denn nur, wenn wir wissen wo wir stehen, können wir auch bei uns bleiben – oder uns auch mal ein wenig beiseite schubsen.

Abenteuer und Herausforderungen gibt es für uns an jeder Ecke, auch zuhause. Und unsere immer nach Entwicklung strebende Persönlichkeit leidet hier wie dort, wenn sie vernachlässigt wird. Wir wollen niemanden verletzen oder enttäuschen, allen voran aber nicht uns selbst. Schlussendlich geht es vermutlich um Wohlbefinden, nicht um die große Suche nach dem Glück, sondern ein Gefühl von Stimmigkeit und Handlungsfreiheit in der eigenen Haut und der Welt. Zur inneren Selbstverortung kommt dann noch das fortwährende Sich-In-Relation-Setzen zur Welt, wie wir sie kennen – und die wächst und wächst mit jedem Schritt aus der Nudelsuppe.

Je weiter der Horizont, desto wohler fühlen wir uns, und die Reise kann weitergehen.

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